Graveln als Fahrradtrend

Der Terroir F bei Retzbach

Mit dem Rennrad abseits der Straßen zu fahren ist keine gute Idee. Aber ist ein Gelände-Rennrad nun die Antwort auf Fragen, die keiner gestellt hat? Ein Gravel-Spezial.

Ziemlich unerwartet launchte der Online-Versender Canyon im Frühjahr ein Gravel-Bike, das neben der ebenfalls noch jungen Baureihe Grail das Schotter-Segment abdecken möchte. Das Grizl. Wenn die Reifen noch etwas schmaler sein dürfen, könnte man sogar zum Crosser namens Inflite greifen, das dieser Tage ganz neu aufgelegt wurde. Selbst das Rennrad Endurace taucht auf der Webseite von Canyon auf, wenn man nach Gravelbikes sucht. Uns interessierte als Mountainbiker das Teil fürs Grobe. Wir haben das Grizl online bestellt und umgehend erhalten. Selbst gekauft, drum ist dieser Test auch ohne Schönfärberei.

Online gekauft. Selbst aufgebaut, schon defekt

Gestartet sind wir recht holperig. Der Bestellablauf bei Canyon funktioniert aktuell sehr gut. Da die komplette Charge des neuen Grizl sofort verfügbar war, brauchte man sich nur eines aussuchen, kaufen, das Geld überweisen und nur wenige Tage später stand der Karton mit dem verpackten Rad auf der Bordsteinkante.

Die Verpackung ist deutlich kompakter, als es vor einiger Zeit noch üblich war. Das hat den Vorteil, dass auch die „normale“ Post so ein Rad zustellen kann. Ansonsten hätte es der Sperrgut-Spediteur sein müssen. Und dann würde das Radl zwischen Waschmaschinen und bleischweren Europaletten umher gerüttelt. Das Grizzl ist gut verpackt, nur wenige Abklebungen, die Rahmen, Gabel und Laufräder vor Kratzern schützen. Prima, so reduziert sich der Abfall!

Das vordere Laufrad war schnell montiert, die Sattelstütze auch. Nun kamen wir aber auf die dumme Idee, den Vorbau umzudrehen. Serienmäßig ist er mit -6 Grad montiert und da wir beim Fahren nicht so tief nach unten greifen wollten, haben wir ihn umgedreht, so dass er nun 6 Grad nach oben ragt. Eigentlich ein simpler Fitting-Trick. Dann haben wir den Lenker angesetzt und verschraubt. Ging schwerer als gewohnt. Und schon war es passiert: Bremsleitung und Schaltzughülle hinter dem Lenker am Vorbau eingeklemmt. Selber schuld, aber Supergau! Da steht man mit seinem Online-Boliden nun im Keller und ärgert sich. Ist so noch nie passiert, aber irgendwann ist es immer das erste Mal. Die Züge und Leitungen sind dem Einsatzzweck geschuldet aber auch sehr, sehr eng verlegt, damit eine Lenkertasche für Reisen und Co. nicht scheuert. Bescheuert.

Intelligente Leitungsverlegung

Eine Reparatur der Leitungen war natürlich unmöglich, so dass nur ein Austausch in Frage kam. Und das bei innenverlegten Leitungen. Nach einer kleinen Recherche fanden wir heraus, dass der Schaltzug in der Leitung durch Unterrohr und Kettenstrebe durchgeführt wird, so dass man gut tauschen kann. Als Klapperschutz gibt es aber noch eine Schaumstoffhülle. Die mussten wir erst überreden, sich aus dem Rahmen ziehen zu lassen. Zum Glück hatten wir eine neue im Keller liegen. Bei der Bremsleitung war es ähnlich. Am besten, hier die alte mit der neuen Leitung verbinden und vorsichtig arbeiten. Am Lenker mussten dann noch beide Lenkerbänder abgewickelt werden…Lange Rede: Nun ist alles sauber neu verlegt und eingestellt. Hätte man das Rad im Fachhandel gekauft (nicht Canyon, eine andere Marke), wäre alle Arbeit und wären alle Kosten auf Rechnung des Händlers gegangen…

Grizl und Gravel

Endlich war Zeit, sich der Ausstattung und Optik des Grizl zu widmen. Der Carbonrahmen zeigt sich blitzsauber verarbeitet, die Lackierung hat keine Macken. Die vordere Gabel ist so stabil, wie sie aussieht. Auch sie ist aus Carbon und wohl fester mit dem Schaft verbunden. So lasen wir das in einem englischsprachigen Fachblatt. Laminiert statt verklebt. Damit sollten auch üble Pisten ohne Materialermüdung zu graveln sein. Die breiten Reifen riefen einige Kritiker in diversen Foren auf den Plan. So was brauche kein Mensch und überhaupt. Wir sind hingegen begeistert. Auch wenn unser Grizl mit 9,5 Kg kein Gewichtswunder ist, so fährt es völlig locker durch die Gegend. Keine Spur von Wald-SUV. Auf Schotter kamen wir bislang öfters ins Schlingern. Besonders auf dem feinen, für die Holzlaster in den Wäldern ausgebrachten Schüttgut im Gramschatzer Wald. Das Grizl fährt mit den 45mm breiten Schwalbe Pneus völlig unbeeindruckt drüber. Auch bei hohen Tempo bergab. Auch Matsch, bedingt durch den regenreichen 2021`er Sommer macht dem Fahrer keine Probleme. Man hat immer genug Traktion. Zumindest, im Rahmen der Möglichkeiten dieser kleinen Profilblöcke des Schwalbe G-One Bite. Auf der Straße liefern wir uns gerne mal mit dem Nachbarn auf dessen Inflite ein Battle.

Pause

Er meint einst, sein schmal bereifter Renner würde deutlich leichter rollen als das Grizl, aber wir haben das mal auf einer Bergabstrecke ausprobiert. Eigentlich null Unterschied. Bei einem echten Rennrad mit seinen 25mm-Trennscheiben und Aeroposition wird das sicherlich anders sein, aber im Alltag ist das wurscht. Uns zumindest.

Erste große Ausfahrt

So, nun aber endlich die erste große Ausfahrt im Gelände. Natürlich nicht nur. dort.  Aber die Radwanderung ging über den Ochsengrund in das Werntal und von dort zum Sodenberg bei Hammelburg. Somit haben sich heftige 97 km Waldwege, Straßen, Fahrradwege, Schotterstrecken, Waldtrails und Wiesen zusammenaddiert. Gravel pur. Die Komponenten müssen dabei gut funktionieren und harmonieren. Zu den Reifen muss man noch sagen, dass diese bedingt durch ihr großes Volumen wirklich gut dämpfen und genau diejenigen Schläge verhindern, die das (Endurance-)Rennradeln abseits guter Wege sonst so lästig machen.

Die Ausstattung

Die Shimano GRX 11-fach Grupp ist auf Niveau einer Ultegra. Die Spannung des Schaltwerks ist größer, so dass die Fahrten über Wurzeln oder Absätze ein Abfallen der Kette deutlich minimieren. Gravel bedeutet mehr Streß für die Antriebskomponenten. Die hydraulischen Bremsen sind top, sie kommen serienmäßig mit Ice-Tech Belägen und ebensolchen Scheiben. Das verbessert die Wärmeableitung.

Ice-Teck Technik an der Bremsanlage

Schaltung und Bremsen sind also auf Niveau, das man in dem Preisbereich erwartet, aber nicht immer schon bekommt. Das Rahmenkonzept ermöglicht die Montage von zahlreichen Packtaschen. Ob man alles Zeug umher fahren möchte, was so angeboten wird, sei mal dahin gestellt. Aber besser am Rad die Wechselklamotten verstaut als im schwitzigen Rucksack. Oder im Starkregen ohne Wetterschutz fluchend nach Hause gerettet.

Auf Tour

Nach einigen Kilometern merkt man dann, dass man immer noch recht sportlich nach unten gebeugt sitzt. Nix Endurance. Aber man gewöhnt sich daran und fährt eben mehr im Obergriff. Wichtig ist es bei diesem Rad, die drei Kontaktpunkte Sattel/Pedale/Lenker gut einzustellen. Das braucht etwas Zeit und Elan, zeigt aber positive Wirkung in der Lendenwirbelsäule. Der grauslich unbequem aussehende Selle-Sattel entpuppt sich als außerordentlich popofreundlich. Die kurze Sattelnase schont dabei auch weitere Körperteile…Nicht geschont wurden unsere Ohren. Ein deftiges Knarzen im Bereich von Sattelstütze oder Sattelklemmung bedarf der Abklärung. Sehr leise hingegen ist der Freilauf an den C1850` er Laufrädern von DT-Swiss.

Systemlaufräder von DT Swiss

Uns zu leise, aber das ist keine Kritik. Eher die Erfahrung, dass ein hörbares Klicken an der Hinterachse manch ein Klingeln im Wald erspart, wenn Wege mit Wanderern gemeinsam benutzt werden.

Fazit

Damit kann man fast schon den Fahreindruck enden lassen. Weil das Grizl das macht, was uns am liebsten ist. Es fährt. Zuverlässig, gut gedämpft, stabil, nie langweilig, nie aufgeregt. Und damit kann man sich auf das konzentrieren, weswegen man aufs Rad steigt: Die Natur erleben, frisch gemähte Wiesen riechen, seinen Puls spüren und gerne auch die Waden. Vielleicht auch mal wieder ohne Radnavigation und Firlefanz. Ganz klassisch. Einfach losfahren. Und gar nicht erst die Frage stellen, ob man ein Gravel-Bike braucht.

Update vom 18.11.2021:

Der eigentlich ganz ordentliche Selle-Italia-Sattel musste vor kurzem einem Brooks C17 weichen. Brooks ist ja eigentlich für seine Kernleder-Sättel bekannt, die man seit Jahrzehnten produziert. Den C17 gibt es nun aber schon seit einigen Jahren und er hat einen guten Ruf. Auffällig ist seine recht robuste Optik. Auch die Breite fällt ins Auge. Durch die Abrundung ist aber kein Popo-Muskel im Weg. Damit sollten dicke und dünne Hintern bestens klar kommen. Das Gewicht des C17 ist recht hoch und nichts für Suchende nach dem letzten eingesparten Gramm am Rad. Am Grizl passt der Brooks jedenfalls bestens. Das schimmernde Blau namens Cambium harmonisiert mit dem hellblauen Rahmen und er fährt sich genauso bequem wie er aussieht. Gefühlt profitiert der Fahrkomfort deutlich. Das, was der steife Rahmen aus Carbon nicht abfedert wird vom C17 weitgehend eliminiert. Vielleicht liegt es auch nur an dem schon angesprochenen breiten Aufbau. Die raue Struktur der Oberfläche setzt sich gerne mit Schmutz zu, lässt sich aber ganz leicht reinigen. Das lässt sich verschmerzen.

Nun aber zum Grizl. Was fiel auf den ersten 2000 km auf? Nix. Alles funktioniert tadellos und ohne dass bislang an Schaltung oder Bremsen etwas nachjustiert werden musste. Die nur leicht genoppten Reifen haben auch noch ihr Profil, auch wenn man es ihnen nicht zutraut. Die Schwalbe-Pneus haben einen Tubeless-Aufbau erhalten und waren davor und danach pannenfrei unterwegs. Die Traktion an und nach Regentagen auf Waldwegen und in Feld und Wiesen ist untadelig. Gar nicht hingegen mögen sie Schlamm und Matsch. Aber dafür gibt es andere Reifen. Insgesamt bleibt es beim guten Eindruck, so wie man es erwartet hatte.

Text und Fotos: Christian Klippel

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